Obwohl es schon ein Weilchen her ist und das Land in dem ich aufgewachsen bin in dieser Form nicht mehr existiert, kann ich mich an den typischen „Maifeiertag“ in meiner Kindheit noch sehr gut erinnern. Das war damals der „Kampftag der Arbeiterklasse“, in einem Land, in dem es nach allgemein gültigem Narrativ gar keine anderen Klassen gab als die Arbeiterklasse. Was wiederum den „Klassenkampf“ ja hätte ad absurdum führen müssen, aber der Feind saß natürlich auf der anderen Seite der Mauer im kapitalistischen Westdeutschland und demzufolge hatte die zentral organisierte Maidemonstration natürlich groß und gewaltig auszusehen.
Nach dem Marschieren ein Softeis im Stadtpark
Straff durchorganisiert aus den Betrieben und Kombinaten heraus fanden sich dann in den Städten von Rostock bis Dresden die Menschen mit Nelke im Knopfloch auf den städtischen „Prachtstraßen“ ein, marschierten winkend und mit Schildern ihres Betriebes an der lokalen Parteiführung vorbei, die es sich – mal stehend, mal gemütlich sitzend – auf einer Tribüne gemütlich gemacht hatten, um die Parade der sogenannten „Werktätigen“ abzunehmen.
Ein anderer, ebenfalls stets gut organisierter Teil der Demonstration fand am Straßenrand statt, dort musste „Spalier gestanden“ werden. Andere Arbeiter, Rentner und natürlich Kinder hatten mit Winkelementen dort den vorbeiziehenden Arbeiterinnen und Arbeitern zuzujubeln.
Ich fand das damals immer ganz toll. Das Wetter war meist frühlingshaft schön, die Eltern mussten nicht arbeiten und es gab auf der Kundgebung natürlich immer viel zu gucken – manchmal traf man auch Bekannte und Mitschüler. Und nachmittags winkte dann als Belohnung oft noch der Besuch eines Volksfestes oder ein Abstecher in die Eisdiele am Stadtpark.
Politisches Affentheater damals wie heute
Angesichts der bereits eingangs erwähnten faktischen Belanglosigkeit des Schauspiels in einem selbst ernannten „Arbeiter- und Bauernstaat“ kann ich heute darüber nur noch den Kopf schütteln. Soziale Spannungen existieren damals nicht oder wurden so perfekt kaschiert, dass niemand sie wahrnehmen konnte. Arbeiter erhielten ihren Leistungen angemessene und für ein Leben in der DDR notwendige Gehälter, wo Wohnungen fehlten, wurden sie zu erschwinglichen Preisen gebaut und abgesehen von der ästhetisch zumindest fragwürdigen „Plattenbauromantik“ gab es da für junge Familien meist nichts zu meckern.
Das was die Menschen viele Jahrzehnte zuvor am 1. Mai auf die Straße getrieben hat, kann jedenfalls in meiner Kindheit kein Grund für das wohl eher „Spektakel“ als „Demonstration“ zu nennende Geschehen gewesen sein.
Und heute? Soziale Spannungen sind aktueller denn je. Wohnungsnot, Mietenwucher, Niedriglöhne, Tarifflucht, erodierende betriebliche Mitbestimmung – Gründe für eine Demonstration am 1. Mai gibt es heute mehr als damals in meiner frühen Jugend. Und die Demonstrationen finden ja auch noch statt, gleichwohl ohne massenhafte Teilnahme und es wird auch nicht mehr nur für eine bessere Arbeits- und Sozialpolitik auf die Straße gegangen. Heute geht es am 1. Mai neben den klassischen Gewerkschaftsthemen um ganz andere Dinge, die ich hier in ihrer Bedeutung sicher nicht schmälern will, aber an einem 1. Mai sollte es eigentlich primär um dessen traditionelles Kernthema gehen. Dazu fliegen heutzutage natürlich auch immer mal wieder Eier und Steine und es wird gegen Staat und Polizei gewettert. Neuerdings mischen sich sogar Corona-Ultras und „Querdenker“ unter die Mai-Demonstranten. Die zentrale Mai-Kundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) gerät da zumindest medial fast schon zur Randerscheinung.
Und dann lässt sich dabei auch noch Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) blicken, der es in dieser Legislaturperiode wieder nicht geschafft hat, das Betriebsverfassungsgesetz zur Stärkung der Mitbestimmung umfassend zu reformieren. Das von ihm stattdessen auf den Weg gebrachte „Betriebsrätestärkungsgesetz“ ist ja eher eine Karikatur seiner selbst.
Leider, man muss es so deutlich sagen, ist der 1. Mai damals wie heute eher ein politisches Affentheater, auch wenn sich Gewerkschafter redlich um Aufmerksamkeit und Relevanz bemühen. Ich bin übrigens auch an anderer Stelle inzwischen skeptisch gegenüber symbolischen Feiertragen, zweckentfremdeten Demonstrationen und ähnlichem. Ich werde da lieber konkret und arbeite an den anderen 364 Tagen des Jahres aktiv an der Verbesserungen der Situation von Arbeitnehmern – als Betriebsrat und Kollege mit offenem Ohr für Nöte und Sorgen.