Das absurde Gerede vom „Notstandswinter“

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Die Angst geht in Deutschland um – wieder einmal. Wenn wir Deutschen etwas gut können, dann ist es das: Uns selbst verängstigen. Und diesmal kommt der „Beelzebub“ als Väterchen Frost daher, als unbarmherziger Winter, in dem wir dieses Mal womöglich ohne wärmendes Gas dastehen.

In Folge des russischen Angriffskrieges in der Ukraine und seiner kaltkriegerischen Begleitauseinandersetzungen mit dem Westen, dreht uns Russlands Präsident Wladimir Putin in den kommenden Wochen womöglich ganz den Gashahn zu und gefährdet damit – wohl kalkulierend – unsere Energieversorgung. Die Abhängigkeit Deutschlands von seinen Gaslieferungen ist Putin natürlich nicht entgangen und nun tun uns seine Sanktionen womöglich bald mehr weh als unsere ihm hätten wehtun sollen.

Droht uns wirklich ein Notstand?

Aber wir müssen uns angesichts dessen, was vor uns liegt auch fragen, wie viel von der Bedrohung tatsächlich real ist und ob nicht ein großer Teil des im Winter erwarteten „Notstandes“ eigentlich eher unserer genetisch bedingten Neurose-Anfälligkeit entspringt. Denn zunächst sind die proklamierten Horror-Szenarien nur Szenarien. Weiterhin erlauben es gesetzliche Rahmenbedingungen in Deutschland schlicht nicht, den Bürgerinnen und Bürgern daheim das Gas abzudrehen. Da sind in der Prioritätenliste erstmal ganz andere Verbraucher dran, für die so etwas natürlich auch bitter wäre, da es sich dann vornehmlich um Industriebetriebe handeln dürfte und deren Probleme über eine einbrechende Wirtschaftsleistung ganz schnell zu unseren werden. Aber wie gesagt, bislang handelt es sich hier nur um Szenarien.

Und dann müssen wir an dieser Stelle natürlich auch über unsere völlig verschobene und wohlstandsverwahrloste Sichtweise darauf, was ein „Notstand“ ist, ein paar Worte verlieren. Gehen wir mal vom Eintreffen des Szenarios aus und stellen wir uns kurz ohne Schnappatmung vor, dass im Winter tatsächlich kurzzeitig Büros oder gar Wohnungen nicht beheizt werden können. Wir haben Klimawandel! Wann gab es zuletzt in Deutschland einen strengen Winter? 2010? Es gibt warme Sachen, Decken und unsere Häuser haben in der Regel dichte Fenster und oftmals sogar gedämmte Fassaden.

Eisblumen am Fenster – innen

Ich kenne da aus Erzählungen aber auch teilweise von eigenem Erleben ganz andere Probleme, die man wirklich getrost als „Notstand“ bezeichnen kann.

So war es unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg, wie mir meine Mutter als Zeitzeugin immer wieder berichtet hat, üblich, dass man nur dann in den kalten Wintern 1946 und 1947 Einlass in die Schule bekam, wenn man von daheim oder vom Händler ein Kohlen-Brikett dabei hatte.

In meiner Kindheit wohnte ich mit meinen Eltern in einer Berliner Altbauwohnung, deren Zustand heute wohl das Prädikat „unbewohnbar“ erhalten würde. Die einfach verglasten Fenster waren an ihren Holzrahmen so durchlässig, dass es quasi keinen Unterschied machte, ob sie geöffnet oder geschlossen waren. Und bei längeren Kälteperioden im Winter, die in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren in Berlin durchaus noch üblich waren, bildeten sich an den Fensterscheiben Eisblumen – innen wohlgemerkt. Mein Vater heizte den Kohlenoffen im Schlafzimmer zweimal täglich. Eine Wolldecke, die vor das marode Fenster gespannt wurde, diente als vorsintflutliche Wärmedämmung.

Und wissen Sie was? Selbst diesen augenscheinlichen „Notstand“ habe ich damals nicht als solchen empfunden. In meiner kindlichen Naivität fand ich diese Winter trotzdem schön, bestaunte die Eisblumen und lauschte beim Einschlafen dem knisternden Feuer im Kohlenofen. Mein Vater, der täglich die Kohleneimer in den vierten Stock hieven musste, fand das sicherlich weniger romantisch. Aber es ging alles irgendwie auszuhalten und mein zwischenzeitlich verschiedener Vater würde heute sicherlich herzlich lachen, wenn er das absurde Gerede vom kommenden „Notstandswinter“ hören oder lesen würde.

Nach der spätrömischen Dekadenz ist vor der Krise

Gewiss: Der lindner’schen Märchenhochzeit auf Sylt zum Trotz muss man klar konstatieren, dass wir uns mitten in einer Krise befinden, die auch (aber keineswegs nur) eine Energiekrise ist. Weitaus bedrohlichere, weil persistentere Bedrohungen aber sind beispielsweise Klimawandel und Inflation. Aber auch das ist noch kein Notstand, auch wenn die „letzte Generation“ da vehement widersprechen wird. Aber eine Krise ist da, das ist nicht zu bestreiten – ebensowenig, dass sie länger bleiben wird. Aber auf den Winter freue ich mich trotzdem eher als das ich ihn fürchte. Denn wenn es so wäre hätten Putin und die „German Angst“ gewonnen.

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