Die wohltuende kaukasische Gelassenheit

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Foto oben: Das Leben pulsiert bei Tage und zur Nacht an den Ufern des Kaspischen Meeres in Aserbaidschans Hauptstadt Baku.

Von Zeit zu Zeit verschlägt es mich beruflich in ferne Länder, was seine Reize hat, zuweilen aber auch anstrengend ist. Und manchmal ist es äußerst erhellend, weil man mit ein paar Tagen Abstand von Deutschland und neuen Erfahrungen und Eindrücken aus dem Ausland manchmal erkennen muss, wie irrational wir Deutsche einige Themen betrachten.

So erging es mir eben neulich in Aserbaidschan und im Hinblick auf den Umgang mit der Corona-Pandemie. Um etwas gleich vorwegzuschicken: Aserbaidschan hat keinen Karl Lauterbach und das Virus trotzdem überlebt. Wie kann das sein? Zumal man – je weiter man sich von Deutschland in Richtung Aserbaidschan entfernt – immer weniger Masken sieht. Hinzukommt, dass in Aserbaidschan keineswegs Liberale oder grobschlächtige Freiheitskämpfer vom Schlage eines Wolfgang Kubicki regieren. Im Gegenteil: Der seit vielen Jahren vom Aliyev-Clan autoritär regierte Staat am Kaspischen Meer wäre ja eigentlich prädestiniert für die Umsetzung einer „NoCovid-Strategie“ nach chinesischem Muster.

Die Seuche ist da, aber sie beherrscht nicht das menschliche Bewusstsein

Aber in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku ist alles anders. Das Leben pulsiert, Touristen bevölkern die Boulevards und Lokale und das Virus ist in seiner vergleichsweise harmlosen Omikron-Variante ein geduldeter Mitbewohner, ohne dass man noch irgendwie Angst oder gar Hysterie nach deutschem (Medien-)Muster verspüren würde.

Dabei hat man auch in Aserbaidschan das Virus keineswegs unterschätzt. In der frühen Pandemie, vor der Verfügbarkeit von Impfstoffen und Masken, haben auch die dortigen Behörden einen strikten Lockdown über das Land verhängt, in dem man lediglich für zwei Stunden am Tag und nur für bestimmte, unaufschiebbare Besorgungen das Haus verlassen durfte.

Als dann Masken und Impfstoffe zur Verfügung standen, hat man genau wie in Deutschland zunächst die Risikogruppen und dann die breiten Bevölkerungsschichten durchgeimpft. Aber dann war irgendwann auch genug – vor allem mit der täglichen medialen Hysterie und dem Herumschleudern von immer neuen statistischen Kennzahlen. Man hat in Aserbaidschan einfach irgendwann Ansagen gemacht und Verordnungen erlassen, wenn es nötig erschien und selbige dann auch bei Zeiten aufgehoben. Und dort saß nicht Abend für Abend ein Karl Lauterbach in irgendeiner Talkshow und hat den Kindern vor dem Einschlafen Gruselgeschichten vom Sensenmann erzählt, der die Oma im Schlaf holen kommt, wenn man tags zuvor am Kaffeetisch keine Maske getragen hat.

Widersprüchliches hält der Deutsche nicht aus

Auffällig erscheint mir in der Rückschau auf zweieinhalb Jahre Pandemie, dass es dem Deutschen notorisch davor graust, irgendwelche Widersprüchlichkeiten aushalten zu müssen oder – noch schlimmer – Unwissenheit! Es war und ist in Deutschland inakzeptabel, irgendetwas in Bezug auf das Virus und seine Entwicklung nicht zu wissen. Alles muss erklärbar sein und zwar idealerweise mit einem ganz gruseligen wissenschaftlichen Hintergrund. Zuzugeben, dass man etwas (noch) nicht weiß, ist eine des Deutschen unwürdige Schwäche. Es muss doch irgendeine Folge des Drosten-Podcasts geben, in der es erklärt wird. Und dann wird jeder Anstieg der Inzidenzen sofort als Vorbote einer erneuten Todeswelle gesehen. Und es wird diskutiert und ermahnt, bis das Gewissen den guten Deutschen wieder so plagt, dass er sicherheitshalber mit FFP2-Maske zu Bett geht.

Vorsicht ist und bleibt richtig, Hysterie nicht

Man verstehe das hier nicht falsch. Weder 2020 noch heute war beziehungsweise ist es richtig, dass Virus auf die leichte Schulter zu nehmen oder gar zu leugnen. Das macht nach meiner Wahrnehmung übrigens auch in Aserbaidschan kaum jemand. Aber Vorsicht sollte man nicht mit Angst oder Hysterie verwechseln. Man kann auch mal Behörden und Ministerien ihre Arbeit machen lassen und gerade nach den inzwischen recht umfangreichen Erfahrungen mit Corona mal Vertrauen in Experten haben, selbst wenn es solche Pannen-Trupps sind wie das RKI oder die Stiko. Man muss nicht sofort die bevorstehende Wiedergeburt des Teufels befürchten, wenn die Inzidenz über 500 steigt. Und wen das zu sehr beunruhigt, der darf sich gern auch ein viertes Mal impfen lassen und permanent Maske tragen. Aber das Leben soll bitte unbeschwert weiter gehen – an der Uferpromenade von Baku ebenso wie an der Spreepromenade zu Berlin.

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