Die Zeitenwende

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Russlands Präsident Wladimir Putin hat mit seinem Einmarschbefehl in Richtung Ukraine im Westen eine Dynamik in Gang gesetzt, die er so vermutlich weder gewollt noch erwartet hat. Vielleicht ist das der größte Hoffnungsschimmer dieser düsteren Tage.

Berlin an einem sonnigen Februarsonntag. Ich stehe inmitten von bis zu 500.000 Friedensdemonstranten unweit des Ehrenmals für die sowjetischen Kriegsopfer des 2. Weltkrieges im Tiergarten. Welch‘ eine bittere Ironie, denn heute wird gegen einen von russischem Boden losgetretenen Angriffskrieg demonstriert. Es läuft mir als Deutscher kalt den Rücken hinunter in diesem Moment, doch dann sind meine Gedanken wieder bei denjenigen Menschen, um die es bei dieser Solidaritätsdemo in erster Linie geht: bei den Ukrainerinnen und Ukrainern. Sie verteidigen dieser Tage trotz militärischer Unterlegenheit ihr Land mit Heldenmut oder leiden schutzsuchend in Bunkern oder der Kiewer Metro wegen des russischen Raketenbeschusses. Und mir scheint die vorfrühlingshafte Februarsonne ins Gesicht! Was für ein Privileg wir doch haben, in Frieden und Freiheit zu leben!

Doch auch diese Frage treibt das politische Deutschland dieser Tage mit zunehmender Dringlichkeit um: Wie lange wird das noch so sein?

Denkwürdige 24 Stunden im politischen Berlin

Die Kaltschnäuzigkeit, mit der Putin trotz intensivster diplomatischer Bemühungen und Sanktionskulisse am Donnerstag in sein Nachbarland einmarschieren ließ, hat selbst „Putin-Versteher“ im Westen aufgerüttelt. In Deutschland allerdings hat man rund 48 Stunden und zuletzt massiven politischen Druck von europäischen Verbündeten gebraucht, um sich auf harte aber letztlich notwendige Maßnahmen gegen Russlands Aggression zu verständigen.

Da ist beispielsweise der weitgehende Ausschluss Russlands aus dem weltweiten Zahlungsverkehr und dem SWIFT-System zu nennen. Bis zuletzt hatte Deutschland diese Maßnahme abgelehnt – mit teils skurrilen Begründungen, wie ich hier kürzlich schrieb. Erst als mit Zypern, Italien und Ungarn die letzten eher pro-russisch eingestellten EU-Partner umschwenkten und der polnische Premier Morawecki Bundeskanzler Scholz am Samstag in Berlin die Leviten gelesen hatte, schwenkte die „Ampel“-Bundesregierung um.

Oder das zugegeben schwierige Thema Defensiv-Bewaffnung der Ukraine: Hier beharrte die Bundesregierung bis zum Schluss auf ihrer Linie, keine Waffen in Konfliktgebiete zu liefern. Sogar noch als die Niederlande und baltische Staaten in Deutschland gefertigte Panzer- beziehungsweise Luftabwehrraketen an Kiew liefern wollten und dafür in Deutschland um Genehmigung ersuchten, zögerte das Kanzleramt.

Dann aber brachten die bemerkenswerten 24 Stunden dieses Wochenendes auch in jener Frage eine echte Zeitenwende: Deutschland liefert also nicht nur 5.000 Helme – wie zynisch wäre dies allein gewesen! – sondern auch Verteidigungswaffen. Großbritannien, Dänemark, Frankreich, neuerdings auch Schweden und viele andere EU-Partner tun es ebenso.

Ob das Putin aufhält, bleibt indes abzuwarten, aber der Westen schließt seine Reihen, setzt Zeichen und scheint allmählich vor die sich auftürmende Welle aus dem Osten zu kommen. Dafür spricht nicht zuletzt auch eine denkwürdige Bundestagssitzung, die parallel zur großen Berliner Friedensdemonstration und quasi in Sichtweite dieser stattfand.

Deutschland macht wieder Verteidigungspolitik

Der größte Coup dieses Tages ist Bundeskanzler Scholz gelungen, der im Bundestag den einigermaßen überraschten Abgeordneten ein „100-Milliarden-Sondervermögen“ zur Ertüchtigung der Bundeswehr ankündigte. Das ist eine Kehrtwende in der deutschen Verteidigungspolitik, die zuletzt mit Fehlinvestitionen, gescheiterten Rüstungsprojekten, Schrumpfkurs und Berichten über eine nur eingeschränkte Einsatz- und Bündnisfähigkeit des Heeres nur Negativschlagzeilen machte. Jetzt also „whatever it takes“ für Bundesverteidigungsministerin Lambrecht. Was Putin so alles möglich macht.

Aber wir wollen nicht zynisch werden, die Situation ist ernst und traurig. In der Ukraine bangen Familien um ihr Leben und beeindruckt Präsident Selenskij mit mutiger Standhaftigkeit und trotzigen Handyvideos.

„Ich brauche keine Mitfahrgelegenheit, ich brauche Munition.“

Präsident Wolodymyr Selenskij als Reaktion auf ein US-Angebot, ihn aus der Ukraine zu evakuieren.

Und er (Selenskij) lehrt damit auch den naivsten Deutschen die Lektion, dass die Absichten eines sich bedrängt fühlenden Diktators sich auch schnell gegen alle anderen Länder der freien Welt richten können. Diese Erkenntnis ist am Wochenende in Berlin angekommen. Im Bundestag. Im Kanzleramt. Und natürlich auf den Straßen der Stadt, wo die Menschen um mich herum für den Frieden und die Ukraine zusammenstanden. So ging ich dann schließlich doch mit einem vorsichtigen Gefühl der Zuversicht heimwärts und verzieh mir selbst einen kleinen sprachlichen Fauxpas: Auf mein graues Pappschild hatte ich in russischen Buchstaben „Kein Krieg“ schreiben wollen. Korrekterweise hätte es wohl «Нет Воине» heißen müssen. Aber die russische Grammatik mit sechs Fällen und weiteren Fallstricken ist für Ungeübte eine echte Herausforderung.

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